Résumé
Diese hoch individuellen Piano Etudes von Unsuk Chin repräsentieren als eine Sammlung einen der anspruchsvollsten Höhepunkte im zeitgenössischen Klavierrepertoire. Komponiert zwischen 1995 und 2003, scheint die abstrakte und dennoch oft spielerische Qualität der Etüden immer wieder durch die formidable technische Komplexität hindurch.
Als definitive Edition, die die neuesten Revisionen der Komponistin enthält, vereint die Ausgabe erstmals alle Etüden in einem einzigen Band. Eine essenzielle Ergänzung der Literatur für technisch höchst versierte Pianistinnen und Pianisten.
Anmerkung der Komponistin:
"Echtere Klaviermusik als eine Etüde kann es nicht geben. Das Wesen des Klaviers ist in ihr zur Musik geworden." (Oscar Bie)
An Konzertetüden reizt mich ganz besonders ihr grenzüberschreitender - im Sinne Franz Liszts »transzendentaler« - Aspekt. Auch wenn Virtuosität kein Selbstzweck sein sollte, lebt ihre Aufführung doch wesentlich davon, dass der Pianist an seine Grenzen zu gehen bereit ist. Für den Komponisten wiederum ist die Komposition von Etüden eine ganz besondere kompositorische und intellektuelle Herausforderung, zumal er sich mit einer großen und reichen Tradition, die von Chopin, Liszt und Skrjabin bis hin zu Debussy, Bartók, Messiaen und Ligeti reicht, auseinandersetzen muss.
Meine sechs Etüden sind zwischen 1995 und 2003 entstanden und mit Ausnahme der zwei letzteren stark revidiert und zum Teil sogar völlig neu komponiert worden. Die Reihenfolge der Nummerierung entspricht nicht der Reihenfolge der Entstehung.
Die erste Etüde In C wurde von der balinesischen Gamelanmusik beeinflusst, die ich 1998 während eines Bali-Aufenthalts näher kennenlernt hatte. Mehrere Konzepte der Gamelanmusik waren hier ausschlaggebend: zum einen die rhythmischen Modelle (insbesondere die konsequente Übereinanderschichtung dreier verschiedener Pulsationen), zum anderen die durch die raffinierten Stimmungen entstehende, einzigartig schimmernde Klangwelt. Auch wenn letztere auf dem Klavier streng genommen gar nicht darstellbar ist, weil sie vom temperierten Tonsystem stark abweichen, kann sie doch durch die Pedalkünste eines geschickten Pianisten und dessen Fähigkeiten, polyphone Strukturen herauszuarbeiten, zumindest heraufbeschwört werden. Allerdings ist die Gamelanmusik hier nur als Allusion präsent: weder wird sie zitiert, noch irgendwie sonst imitiert. Die Harmonik des Stücks basiert auf dem Ton C - daher der Name des Stückes, der eine Reverenz an die Tradition darstellt (sowohl Chopins und Debussys Etüden als auch Bachs Wohltemperiertes Klavier beginnen in C-Dur). Allerdings hat In C mit der dur-moll-tonalen Harmonik nicht das Geringste zu tun: die Obertonreihe des Tons c bildet lediglich die harmonische Grundlage des Stücks.
Die Etüden Nr. 2 bis 4 (Sequenzen, Scherzo ad libitum, Skalen) wurden als Gruppe konzipiert und entstanden 1995. Im Vergleich zu den übrigen Etüden habe ich mich hier relativ stark an der Klaviermusik der klassischen Moderne orientiert, insbesondere was die Klaviertechnik anbelangt. Scherzo ad libitum ist ein Charakterstück und bildet somit einen markanten Kontrast zu den anderen Etüden.
Die Etüde Nr.5, Toccata, ein polyrhythmisches Virtuosenstück, nimmt Bezug auf die erste Etüde, denn auch sie basiert auf der Obertonreihe des Tons c. Allerdings ist das Konzept, das ihr zugrunde liegt, dem der ersten Etüde gänzlich entgegengesetzt.Sie beginnt mit sehr einfachen, eher unscheinbaren musikalischen Zellen, die zunehmend komplexere Erscheinungsformen annehmen.
Grains, die sechste Etüde, entstand im Auftrag des Londoner South Bank Centre aus Anlass
des 75. Geburtstags von Pierre Boulez. Der prägende Einfluss für dieses Stück war die Methode der Granularsynthese, die ich bei meiner Arbeit im elektronischen Studio der Technischen Universität Berlin kennengelernt habe. In der elektroakustischen Musik bezeichnet man digitale klangliche Elementarteilchen, deren Länge 1 bis 50 Millisekunden beträgt, als »Grains«. Diese »Klangkörner« werden durch Zerlegung aufgezeichneter Klänge gewonnen und bei der Granularsynthese zu neuen Klängen zusammengesetzt. Grains simuliert dieses Konzept auf den Tasten des Klaviers, indem Einzeltöne und andere isolierte Klangereignisse auf ihr Entwicklungspotenzial hin abgehorcht werden. Aus diesen musikalischen Partikeln werden verschiedenste polyrhythmisch vertrackte und kontrastreiche Fragmente generiert, die unmittelbar aufeinanderprallen. Das Stück ist - was die Klaviertechnik, aber auch die musikalische Struktur betrifft - sehr weit von der traditionellen Klaviermusik entfernt.
NB: Eine Gesamtaufführung der Etüden sollte immer mit der fünften Etüde, Toccata, beschlossen werden.
- Unsuk Chin -
Schwierigkeitsgrad: 4-5